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Vortrag für das 18. Kartographiehistorische Colloquium, 15.-17. September 2016 im Institut für Geschichte der Universität Wien

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kartenfreunde

   

(1) Mein Vortrag untersucht die räumlichen Prozesse von 'Lebensraum und Getto' anhand eines besonderen Beispiels. Gewöhnlich präsentieren Holocaust-Historiker die regionalen und lokalen Zusammenhänge ihrer Themen mit einfachen rekonstruierten Karten oder mit digitalen Plänen, die mit geographischen Informationssystemen entworfen wurden. Zeitgenössische Landkarten und Stadtpläne dienen allenfalls nur zur Illustration. In manchen Fällen sind jedoch viele öffentliche, geheime und persönliche kartographische Dokumente erhalten geblieben, wenn auch zerstreut über Bibliotheken, Archive und Privat-Sammlungen. Heute möchte ich mit Ihnen das Verhältnis zwischen dem deutschen Lebensraum und dem ersten und letzten jüdischen Ghetto erkunden, und zwar mit Hilfe von Karten des Warthegaus und Plänen von Litzmannstadt aus den Jahren 1938-1944.

 

 

(2) Die Karte links entstammt dem Kampfblatt der Nationalsozialistischen Bewegung Grossdeutschlands und erschien am 12. September 1939. Mit diesem Sonderdruck des Völkischen Beobachters kann man die deutsche Invasion Polens verfolgen. Die Karte rechts wurde der Isvestia entnommen, der Zeitung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Sie ist vom 18. September und zeigt die Demarkationslinie der deutsch-sowjetischen Interessensphären durch Warschau, gemäss dem geheimen Zusatzprotokoll des Ribbentrop-Molotow-Pakt vom August. Nach der Niederlage Polens verzichtete Deutschland auf Litauen und erhielt im Gegenzug die gesamte Woiwodschaft (Provinz) Lublin und die weiteren Teile der Woiwodschaft Warschau. Die rosa gefärbte Nord-Süd-Linie auf der linken Karte zeigt die neu vereinbarte Grenze.

 

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(3) Mit der Annexion des polnischen Westens entstand auch der Reichsgau Wartheland mit Posen als Gauhauptstadt. Hier sehen Sie eine Strassenkarte mit dem Gebiet um Posen im Maßstab 1:300.000 vom Frühjahr 1939, nur für den Dienstgebrauch herausgegeben vom Generalstab des Heeres. Seine Dienststelle des Kriegskarten- und Vermessungswesens, später auch 'Topographietruppe' genannt, produzierte allerart Kriegskarten durch Revidierung von lokalen Karten mit Hilfe von Luftaufnahmen und von durch Spionage ermittelten Informationen.

 

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(4) Hier dasselbe Gebiet im gleichen Maßstab vom Ende 1940, aber jetzt freigegeben für die Öffentlichkeit. Man sieht, wie der 'Schandfrieden von Versailles' rückgängig gemacht wurde und wie das Eindeutschungsprogramm auch die Kartographie erfasst.

 

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(5) Zoomen wir die Karte näher heran. Jetzt ergibt sich, dass auch die Namen der kleineren Orte eingedeutscht worden sind. Auch so werden die an den neuen polnischen Staat abgetretenen Gebiete wieder zum Reichsterritorium.

 

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(6) Die 'Topographietruppe' produzierte 1939 auch diesen Plan von Łódź im Maßstab 1:20.000 mit ihrer gelben 'Verkehrsspinne' mit der Piotrkówska Ulica als Achse. Am 9. September marschierte die Wehrmacht in die zweite Stadt Polens ein. Vor 1919 gehörte diese nicht zum Deutschen Reich. Da die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung 1939 aus Juden und anderen Polen bestand, war die Stadt und ihre Region vorbestimmt zum Generalgouvernement. Unter dem Druck deutscher Einwohner (damals noch keine 10%) und weil Gauleiter Greiser sich auch eine Industriebasis wünschte - Lodz galt nämlich als 'Manchester des Ostens' - wurde die Stadt am 9. November 1939 jedoch Teil des Reichsgaus Posen. Am nächsten Tag zerstörten die Nazis die vier grossen Synagogen von Lodsch.

 

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(7) Hier eine polnische Karte der Lodscher Woiwodschaft samt ihren Landkreisen, im Maßstab 1:300.000, 1939 in Warschau gezeichnet sowie gedruckt und in Lodz herausgegeben von der Buchhandlung Seipelt an der Piotrkówska Ulica. Nur ihre östlichen Landkreise kamen zum Generalgouvernement. Ende Januar 1940 wird der Reichsgau Posen zum Reichsgau Wartheland. Mit diesem 'Warthegau' entsteht deutscher Lebensraum im Osten. Der Begriff Lebensraum wurde erstmals in dem Buch Politische Geographie (1897) systematisiert. Hier stellte Ratzel den Staat als ein im Kampf um Raum verwickeltes Lebewesen dar, anstatt als ein Kontrakt zwischen Bürgern. Lebensraum im Osten wurde von der völkischen Bewegung im Kaiserreich geprägt und von den Nazis rassisch interpretiert. Die Idee des Lebensraums begründete die Germanisierung von eroberten Gebieten im Osten. Aber jetzt geht eine neue Dimension voran. Himmler erklärt 1942: Unsere Pflicht im Osten ist nicht die Germanisierung im früheren Sinne des Begriffs, also die deutsche Sprache und das deutsche Recht nach Osten zu bringen, sondern dafür zu sorgen, dass nur Menschen reinen deutschen Blutes den Osten bevölkern.

 

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(8) Sie sehen jetzt Reichsgau Wartheland, Kernland des Deutschen Ostens, ohne Maßstab und Jahr, gezeichnet von Ernst Modlich, gedruckt in Berlin und herausgegeben vom 'Heimatbund Wartheland' in Posen. Die Randschrift präsentiert eine Kurzfassung ihrer Blut-und-Boden-Ideologie. Diese Wandkarte voller Bauern, Wald- und Handwerker präsentiert zwei Grossstädte. Mitte West die Gauhauptstadt Posen mit Dom, Rathaus und Hafen; sogar der Landsitz von Gauleiter Greiser südöstlich der Hauptstadt ist sichtbar. Im Osten sehen Sie Litzmannstadt mit Rathaus und Fabriken in und um der Stadt. Lodsch war April 1940 nach dem siegreichen General aus den Ersten Weltkrieg und späteren 'nationalsozialistischen Vorkämpfer' Litzmann umbenannt worden. Das Problem der 'blonden Utopie' dieser Karte war, dass Ende 1939 nur 325.000 Einwohner des Warthegaus 'Deutsche' waren. Abgesehen von diesen 'Übermenschen' gab es beim Kriegsbeginn noch über vier Millionen polnische 'Untermenschen' und 435.000 jüdische 'Unmenschen', von denen mehr als die Hälfte in Lodsch lebte.

 

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(9) Im 19. Jahrhundert waren deutsche Textilunternehmer, Spinner und Weber nach Lodz in Kongresspolen gezogen, das zum Tsarenreich gehörte, um den riesigen russischen Markt bedienen zu können. Als sie sich entlang der Piotrkówska Ulica ansiedelten, entstand hier die Neustadt; die Ortschaft im Norden wurde zur Altstadt. 1840 bildeten Deutschsprachige fast 4/5 der 8.600 Einwohner. Aber die Industriestadt wuchs schnell weiter, gegen 1900 waren von 314.000 Lodscher Bürgern schon 41% Polen, 29% Juden und nur 21% Deutsche. Die Ansprüche auf deutschsprachiche Schulen blieben umstritten; von polnischen Bisschöfen wegen ihrer katholischen Schüler und von russischen Behörden wegen der öffentlichen Schulen. Dennoch wurden in Lodz viele deutsche Schulen errichtet, wie die Karte und das Diagramm aus 1941 zeigen (die Zahlen rechtsoben betreffen den ganzen Osten des 'Warthelandes' im Jahre 1937). Mit der Emigration vieler Deutsche nach dem Ersten Weltkrieg nahm auch die Zahl ihrer Schulen rasch ab. Anfang 1939 betrug der Anteil deutscher Polen in Lodz nur noch 9% von insgesamt 680.000 Einwohnern.

 

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(10) Im März 1941 eröffnete Himmler in Berlin die Ausstellung Planung und Aufbau im Osten. Das Plakat Die Aussiedlung enthält 8 kleine Karten. Links die vier neuen deutschen Gaue - Ostpreussen, Danzig, Wartheland und Oberschlesien - und rechts viermal das Generalgouvernement mit ihrem Distrikten Warschau, Radom, Lublin und Krakau. Das Plakat stellt fest: Zur Platzschaffung für die Ansetzung der rückgeführten Volksdeutschen werden Polen und Juden aus den eingegliederten Ostgebieten ausgesiedelt und über die Aussiedlungslager des Chefs der Sicherheitheitspolizei und der SD in das Generalgouvernement gefahren. Das Ausstellungsplakat zeigt unter anderem, dass zwischen Oktober 1939 und März 1941 aus dem Warthegau an die 300.000 'Polen und Juden' über Litzmannstadt deportiert wurden.

 

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(11) Hier zwei Ausschnitte aus einem Wochenschau-Film Aus Lodz wird Litzmannstadt vom Jahre 1940. Zur Germanisierung des Warthegaus und von Litzmannstadt wurden nicht nur Deutsche aus dem 'Altreich' und aus dem Sudetenland herangelockt. Auch Volksdeutsche aus den baltischen Staaten bis hin zu Rumänien wurden 'Heim ins Reich' geführt. Der Ribbentrop-Molotov-Pakt und andere Verträge hatten bestimmt, dass der geschätzte Wert ihrer hinterlassenen Güter umgerechnet in Rohstoffen dem Deutschen Reich zu Gute kommen sollte. Deutsche Einwanderer wurden herangelockt und kompensiert mit Bauernhöfen, Werkstätten und Häusern, samt Inventar, die vertriebenen 'Polen und Juden' gehört hatten. In Litzmannstadt erklärt Oberbürgermeister Schiffer: Es solle ein deutscher Stadtkern geschaffen, in dem Volksdeutsche und Baltendeutsche angesiedelt werden.

 

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(12) Ein Jahr nach der Eroberung von Lodz gibt die Litzmannstädter Zeitung vom 20. Oktober 1940 einen Einblick in die Neugestaltung und Eindeutschung der Neustadt. Erste Aufgabe der Bauverwaltung war die Seuchenbekämpfung durch neue Trinkwasserversorgung und Erweiterung der Kanalisation. Beim Strassenbau wurde die polnische Verkehrsspinne, wo der gesamte Durchgangsverkehr in die Piotrkówska Ulica zusammenkam, durch neue Parallelstrassen entlastet, wie die Karte rechts zeigt. Als Adolf-Hitler-Strasse sollte diese Hauptachse nun auch eingedeutscht werden, indem der Zirkus wahloser Misschung aller Stilarten ... in geregelte Bahnen gelenkt wird. Sie sehen hier, wie 'polnische Fassaden' ein geradliniges 'deutsches Gesicht' bekommen und 'polnische Dächer' erhöht werden.   Zum Vergrößern anklicken
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(13) Unter der Leitung des Oberbürgermeisters plante die Stadtbauverwaltung auch die Sanierung der vielen schmalen und hohen Hinterhöfe entlang der Adolf-Hitler-Strasse. Stadtoberbaudirektor Hallbauer schrieb Januar 1940 in seinen Grundsätzlichen Gedanken zum Raumproblem Lodsch, dass Lodsch nie eine deutsche Stadt werde, wenn nicht die Grundvoraussetzungen dafür geschaffen würden, dass die asiatischen Erbteile mit Stumpf und Stil ausgerottet und die Keimzellen, nämlich die Wohnungseinheiten der Stadt, saniert werden. Er beabsichtigte mit seiner 'Denkschrift' die Bauverwaltung auch zum Vorreiter der 'Volkstums-Neuordnung' zu machen: Wenn man nun bewusst die Kernstadt Lodsch von fremdem Volkstum reinigt und die genannten Vorstädte aufs stärkste eindeutscht, dann wird diese volkstumsmässige Besetzung des Gesamtraumes im Stande sein, die politische Ruhe im Innenraum jederzeit zu sichern und zu beherrschen. Der Stadtoberbaudirektor bestand deshalb darauf die beschlagnahmten Vermögen als 'Kriegskontribution' nicht an das Altreich abzutreten, sondern für den Sofortaufbau am Orte selbst zu verwenden.

 

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(14) Gauleiter Greiser forderte die Stadt auf, dem Berliner Architekten Bangert ebenfalls einen Planungsauftrag zu erteilen. Der stellte aber fest, dass es Litzmannstadt an einem gemeinsamen geistigen Kern fehle … es gibt nicht einmal die sonst im Osten vorhandenen Zeugnisse des Deutschen Ritterordens. Sein erster Plan vom November 1940 enthielt deshalb die Gründung eines völlig neuen Stadtzentrums an einer Ost-West-Achse mit einem neu errichtenden Hauptbahnhof. Aber die Konkretisierung dieses Plans lief nicht gut, zumal die Bodenverhältnisse im Westen keinen Hochbau erlaubten. Hallbauer kam dieser Umstand sehr gelegen, denn ihm lag an der 'Eindeutschung' der bestehenden Stadt. Links sehen Sie Bangerts Kompromiss, die Skizze zur Neugestaltung im Maßstab 1:5.000 vom April 1941, mit einer stark verkleinerten 'deutschen Weststadt'. Die grosse Volkshalle neben dem Hitlerjugend Park bildet den neuen Kern für die übrigen öffentlichen Gebäude. Verfolgen Sie die Nummern: 1 Volkshalle, 2 Regierung, 3 Theater, 4 Hotel, 5 Hauptbahnhof, 6 Konzertsaal, 7 Hitlerjugendheim, 8 Kino, 9 Museum, 10 Rathaus, 11 Adolf-Hitler-Strasse, 12 Hermann-Göring-Strasse, 13 Rudolf-Hess-Strasse, 14 Stadion, 15 Deutsche Weststadt. Die Siedlungsstellen der Weststadt sind ausgestattet mit je einer Schule (a), einem H.J.-Heim (b) und einem Gemeinschaftshaus (c). In November stellte Bangert den Ratsherren der Stadt einen Teil dieses Plans als Modell (rechts) mit der Volkshalle im Mittelpunkt vor.

 

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(15) Diese Beilage der Litzmanstädter Zeitung von 26. November 1941 feiert die entscheidungsvolle Ratsherrensitzung ..., in der zum erstenmal die Pläne für den Neuaufbau Litzmannstadts öffentlich bekanntgegeben wurden. ... Alle erkannten die herrliche Aufgabe ... eine Stadt bauen und einen Raum beeinflussen zu dürfen. Geschlechter vor uns haben sich in diesem Kampfe verblutet. Sie trugen gewiss das Ideal einer deutschen Stadt im Herzen, aber sie durften sie niemals sehen. Man kann gerade noch zwei Karten vom neuen Litzmannstadt im Sitzungssaal unterscheiden. Am nächsten Tag präsentierte die Zeitung beide Pläne mit Bangerts Modell und mit einem Strukturplan für die Stadt und ihre Umgebung, den wir gleich sehen werden. Die Verwaltung betont: Es ist jungfräuliche Erde, der wir unseren Stempel aufdrücken können.

 

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(16) Der zweite Plan von Litzmannstadt, auch Wirtschaftsplan genannt, wurde auf Geheiss vom Oberbürgermeister im September 1941 vom Stadtplanungsamt besorgt. Auch dieser Plan wurde in der Ratsherrensitzung von 26. November präsentiert. Eine Notiz vom Januar 1942 erklärt die damit verbundene enorme Aufgabe: Die Industrie fordert, dass die Gesamteinwohneranzahl auch dann noch gehalten wird, wenn die Juden ausgezogen und die Polen allmählich durch Deutsche ersetzt sind. Da nur für Deutsche Wohnungen gebaut werden, wird der Gesamtbedarf ... von der Schnelligkeit der Eindeutschung abhängen. Rechnet man, dass ... einmal 500.000 Deutsche in Litzmannstadt wohnen, so sind hierfür 100.000 Wohnungen zu je 3-5 Zimmern nötig. Darum plante man auch Gartenstädte für Rückwanderer, Ansiedler und Reichsdeutsche Beamte und Angestellte, wie Stockhof im Osten, um die Stadt herum.

 

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(17) Von den vielen Plänen ist wegen des Krieges wenig verwirklicht. So wurde die Neustadt nur zum Teil saniert und nordwestlich der Altstadt entstand eine kleine Siedlung 'Am Wiesenhang'. Der interessanteste Fall ist die Gartenstadt Stockhof, die für etwa 12.000 Deutsche gedacht war. Hier sehen Sie ihre drei Ortsgruppen auf dem Gesamtsiedlungsplan vom Dezember 1941 im Maßstab 1:5.000. In der Mitte der Siedlung steht das Deutsche Haus. Jeder Teil hat einen Markt mit Ortsgruppenhaus. Hügel werden von einer Schule oder von einem Hitlerjugendheim gekrönt. Zwischen sie spannt sich im Stockhof-Süd der Anger, der eine im Hügel vorhandene Mulde ausnutzend, die gesamte Einwohnerschaft nach Art eines Amphitheaters mit Front zum Turm des Ortgruppengebäudes, vor dem der Redner steht, aufzunehmen vermag. Nur Stockhof-Süd wurde 1942 gebaut und ist so gut wie komplett erhalten geblieben. Auch wenn Pläne nur zum Teil realisiert wurden, versicherte die Nazi-Verwaltung: Das neue Litzmannstadt ist keine Utopie, sondern eine ganz nahe Wirklichkeit.

 

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(18) Mit diesem polnischen Stadtplan von Łódź aus 1939 im Maßstab 1:20.000 richten wir den Blick wiederum auf die Periode vor der deutschen Besatzung. 1848 wurden einige Beschränkungen für jüdische Niederlassung in Städte von Russisch-Polen aufgehoben. Hiernach verstärkten Juden, vor allem aus Galizien, die kleine jüdische Gemeinde von Lodz. Sie siedelten sich in der Altstadt (Pfeil 1 deutet auf ihren alten Friedhof) und später im benachbarten Bawuty an (Pfeil 2 deutet auf ihren neuen Friedhof). Mitte 19. Jahrhunderts konnten sich nur jüdische Familien mit genügend Kapital und Bereitschaft zur Assimilation in der Neustadt niederlassen. Erst ab 1862 wurde die Neustadt freigegeben für jüdische Händler, Ladeninhaber und Handwerker und auch für polnische Kleinbauern, die meistens Fabrikarbeiter wurden. Nach 1882 kamen die Ostjuden vorwiegend aus Russland. Auf der Flucht vor Pogromen in den Westen wurde Lodz ein Zwischenhafen am Westrand des Tsarenreiches. Der Erste Weltkrieg raubte der Textilstadt ihren russischen Markt. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 erschwerte auch in Polen den Aufbau der Industrie. Bis 1939 gab es in der Stadt hin und wieder Reibereien zwischen 'niedergehenden Deutschen', 'aufstrebenden Juden' und 'nationalistischen Polen', aber nur wenig ethnische Konflikte. Antisemitismus war jedoch weit verbreitet. Am Vorabend des Krieges zählte Lodz 230.000 Juden.

 

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(19) Mit der deutschen Besatzung kam auch der antisemitische Rassismus nach Polen. Hier eine Postkarte zur Wanderausstellung Der Ewige Jude aus Wien 1938. Sie sehen einen Ostjuden im Kaftan mit den Attributen des Goldgeldes (der Wucher des Finanzkapitals), eine Karte der Soviet-Union (der Basis des Kommunismus), und eine Peitsche (als Herrschaftssymbol). Weiter: vier Karten über die Wanderungsgeschichte der Juden und ihr Streben nach Weltherrschaft aus den gleichnamigen 'Dokumentarfilm' von 1940. Der erste Satz offenbart schon die Intention hinter dem Film: Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart. Dieser Film zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos, er zeigt uns Juden, wie sie in Wirklichkeit aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des zivilisierten Europäers verstecken. Die Aufnahmen von verschmutzten Personen aus dem Lodscher Ghetto vom Herbst 1939, abgewechselt mit Bilder von Ratten, entlarven die Juden als ein 'parasitisches Volk', das die sittliche und physische Gesundheit der arischen Völker bedroht. Der Film endet mit einem umjubelten Hitler der am 30. Januar 1939 auf dem Reichstag verkündet: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!

 

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(20) In Das Judenthum im Osteuropäischen Raum aus dem Jahre 1938 beschreibt Peter-Heinz Seraphim die Urbanisierung der Ostjuden und analysiert er Migration und Getto als die zwei Seiten ihres Lebens. Er gibt viele kleine Pläne, wie hier über die 'Ghettobildung in Lodz'. Das unhygienische jiddische Getto in Osteuropa bildet eine 'Schtot' innerhalb der Stadt die, so Seraphim, allen Massnahmen zur Assimilierung widersteht. Sie funktioniert als Machtbasis für die jüdischen Versuche, das ökonomische und kulturelle Leben des Gastlandes zu unterwandern. So kann man hier sehen, wie die Juden aus dem Lodscher Getto in der Altstadt langsam das wirtschaftliche und soziale Zentrum der Neustadt übernehmen. Das Buch wurde zu einem Wendepunkt in den Diskussionen der Nazi-Führer über Gettos. Vor diesem Hintergrund versteht man Heydrichs Schnellbrief vom September 1939 besser: Es gibt keinen zentralen Befehl zur Errichtung von neuen Gettos in Polen. In den letzten Sätzen kontrastiert Seraphim den traditionellen polnischen Antisemitismus mit dem revolutionären rassistischen Antisemitismus der Nazis. Der Antisemitismus Osteuropas ist vorwiegend eine Folge des wirtschaftlichen Gegensatzes, gemischt mit gefühlsmässiger oder auch religiös-sittlicher Ablehnung. Nationalistisch-minderheitenfeindliche Zielsetzungen sind aber keine Weltanschauung und können nie die Stosskraft einer solchen besitzen.

 

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(21) Während der deutschen Invasion von Polen im September 1939 entflohen fast 50.000 Juden Lodz um Zuflucht zu suchen in Gebieten, die unter sowjetische Besatzung kamen. Später wurden zehntausende Polen und Juden ins ‘Nebenland des Reiches', das Generalgouvernement, verschleppt. Als diese Deportationen vom Generalgouverneur Frank aufgeschoben wurden, eskalierte in Lodsch ein Prozess der Ausgrenzung. Etwa 155.000 Juden mussten einen gelben Stern tragen, wurden von Märkten verbannt und bekamen Ausgangssperren verhängt. Dieser Plan von Anfang 1940 im Maßstab 1:20.000 beruht auf Volkszählungen aus der Vorkriegszeit und zeigt die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung. Jeder Punkt symbolisiert 200 Personen. Schwarzgrün steht für Deutsche, Rot für Polen und Gelb für Juden. Die Mehrzahl der armen Ostjuden wohnte 1940 noch immer in der Altstadt oder im benachbarten Bawuty.

 

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21. Zum Vergrößern anklicken

(22) Dann erschien am 11. Februar 1940 in der Lodscher Zeitung ein Plan mit dem ausschliesslichen Aufenthaltsraum für Juden im Norden und dem neuen Wohnraum für Polen im Süden. Jüdische Häuser in der Neustadt sind künftig für Deutsche gedacht. Der Stadtoberbaudirektor schrieb dazu: Eine Stadt ist entweder von innen heraus deutsch, oder sie ist es nicht. Solche Eindeutschung erfordert aber in Lodsch Neuordnung von Grund auf, bei den Menschen wie allen Sachen. Man muss die Juden in einem eigenen abseitigen Wohngebiet bis zu der in Aussicht gestellten völligen Abschiebung über die Grenze isolieren. Der 'Gauinspekteur und Regierungspräsident' des Lodscher Bezirks Uebelhoer hatte das 'Zurück ins Getto' verordnet: Er schrieb in Der Osten des Warthelandes aus 1941: Wir haben die wirksamste, aber auch die radikalste Massnahme getroffen, indem wir die Juden in Litzmannstadt in den Stadtteil verwiesen, aus dem sie sich früher über die Stadt ergossen hatten, nämlich in das Getto.

 

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22. Zum Vergrößern anklicken

(23) Innerhalb der grünen Linien sehen Sie das Wohngebiet der Juden. Auffällig ist, dass nur die Altstadt mit gelben Grenzen als Getto bezeichnet wird. Alle nicht-jüdischen Bewohner mussten hier bis zum 30. April 1940 wegziehen. Gleichzeitig wurden zu den bereits ansässigen 60.000 Juden weitere 95.000 durch Zwang einquartiert. Dieser Plan des Planungsamts der Stadtverwaltung aus September 1940 zeigt mit roten Linien das 'Seuchengebiet'. Da 90% der Häuser im jüdischen Wohngebiet nicht über einen Kanalanschluss verfügten und jetzt im Durchschnitt in jedem Zimmer sechs bis sieben Menschen wohnten, gab es regelmässig Seuchen. Nazis sahen Ostjuden überhaupt als Träger von Seuchenerregern. Die Stadtverwaltung, vor allem in Sorge, dass Epidemien und Brände auf die deutsche Stadt überschlugen, ergriff Massnahmen.

 

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23. Zum Vergrößern anklicken

(24) Auf einer Luftaufnahme vom Mai 1942 ist zu sehen, wie die hölzernen Häuser im 'verseuchten' Gebiet ausserhalb des Gettos abgerissen worden sind. Die vier Quadratkilometer des ganzen Gettos waren mit Stacheldraht und Mauerwerk umgeben. Juden war es unter Androhung der Todesstrafe verboten, ohne Erlaubnis ihr Wohngebiet zu verlassen. Das Getto musste von seinen Bewohnern selber finanziert werden, zuerst durch den Verkauf letzter Wertgegenstände, später durch Zwangsarbeit in Fabriken. Die Durchhalteparole des 'Judenältesten' Rumkowski lautete: Unser einziger Weg ist Arbeit. 1940 arbeiteten lediglich 31 Betriebe und Werkstätten für die Kriegsbeschaffung, 1943 waren es bereits 117. In demselben Jahr waren in den Betrieben 70.000 Personen beschäftigt. Vor allem Uniformen und Stiefel wurden im Getto gefertigt, aber auch Möbel und Frauenkleidung für Volksdeutsche. Bis zum Ende hofften viele Juden durch ihre kriegswichtige Arbeit, der Deportation und dem Hungertod entrinnen zu können. Eine geheime Koffermaquette im Maßstab 1:5.000, 1940 vom Schuster Jacobson hergestellt, zeigt wie durchgehende Strassen mit Fussgängerbrücken versehen wurden. Die drei Brücken sind auch auf dem Luftbild von Mai 1942 zu unterscheiden. Auf und an dem abgeriegelten Markt im Zentrum stehen die Gebäude der deutschen und jüdischen Gettoverwaltung.

 

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24. Zum Vergrößern anklicken

(25) Hier zwei Fotos mit Plänen des Wohngebiets der Juden in Litzmannstadt im zentralen jüdischen Verwaltungsgebäude. Die fünf Polizeidistrikte des Gettos sind deutlich sichtbar. Der Plan rechts ist älter als der Plan links, denn Mai 1941 mussten 1.330 Menschen umziehen, weil die westlichsten Strassen vom Getto abgetrennt wurden. An der Spitze dieser Verwaltung stand der Judenälteste Rumkowski, hier auf einer Gettobriefmarke, der einen Ältestenrat als beratendes Gremium berief. Die Besatzer delegierten die Organisation des Gettos an den Judenrat und ihre 5.500 (Februar 1941) bis 12.000 (August 1942) bevorzugten Mitarbeiter. Die Verwaltung bestand aus einer Hierarchie von 33 Zentralen, Abteilungen, Ressorts und Kommissionen. Die wichtigsten waren: das zentrale Sekretariat, ein Meldebüro, die Statistik-Abteilung, der Ordnungsdienst mit 850 bis 1.200 Angehörigen, das Schnellgericht, die Wohnungsabteilung, eine Versorgungsabteilung für die Verteilung der Lebensmittelrationen, die Gesundheitsabteilung, die Schulabteilung, das zentrale Arbeitsambt und die Aussiedlungskommission, die für die Deportationslisten zuständig war. Diese Einrichtungen sollten den Eindruck von 'jüdischer Selbstverwaltung' vermitteln. Rumkowski musste sich aber ständig bei der deutschen Gettoverwaltung unter Leitung des Bremer Kaufmannes Biebow verantworten. Entweder führten die jüdischen Institutionen deutsche Befehle aus, oder sie waren, wie der Ältestenrat, praktisch ohne Einfluss.

 

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(26) Auf diesem Luftbild sehen sie Radegast im Nordosten des Gettos. Über diesen Bahnhof wurden einerseits Rohstoffe und Lebensmittel in das Getto befördert und andererseits fertige Produkte abtransportiert. Ich möchte aber kurz auf das 'Zigeunerlager' am südostlichen Rande des Gettos hinweisen, von dem Sie auch eine moderne Maquette sehen. November '41 wurden hier 5.007 Roma und Sinti aus dem österreichischen Burgenland interniert, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder. Die jüdische Gettoverwaltung musste das Zigeunerlager medizinisch und mit Lebensmittel betreuen. Es gab weder sanitäre Einrichtungen, noch Kochgelegenheiten und in manchen Zimmern 'wohnten' fast 30 Menschen. In wenigen Wochen starben Hunderte an Kälte, Hunger und Flecktyphus. Sie wurden in einem abgesonderten Teil des jüdischen Friedhofs beerdigt. Die anderen wurden Januar 1942 zum Vernichtungslager Kulmhof verschleppt.

 

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26. Zum Vergrößern anklicken

(27) Oktober 1941 schlossen im Getto die Schulen, um 23.000 Westjuden aus Luxemburg, Düsseldorf, Köln, Emden, Hamburg, Frankfurt, Berlin, Prag und Wien wenigstens kollektiv Dach und Boden bieten zu können. Das Getto ist jetzt völlig überfordert. Es leben 163.623 Menschen im Getto – die höchste Zahl in seiner vierjährigen Geschichte. Schon Mitte Juli hatte Eichmann einen Brief aus der für Litzmannstadt zuständigen Gauhauptstadt Posen erhalten in dem SS-Sturmbannführer Höppner schrieb: Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgend ein schnell wirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen. Im Dezember verlangt Gauleiter Greiser eine Liste mit 20.000 Juden, die ebenfalls wie die Roma im Januar 1942 'ausgesiedelt' werden sollen. Rumkowski feilscht die Zahl auf 10.000 hinunter - die Auswahl obliegt ihm. Bis Mai werden weitere 45.000 deportiert. Ihr Schicksal blieb ungewiss, bis grosse Mengen Kleidung, manchmal mit Gebetsriemen und Pässen, zur Verarbeitung im Getto eintrafen. Jetzt fürchtete man das Schlimmste. Zwischen Mai und August wurden dann 14.500 arbeitsfähige Juden aus kleineren Gettos des Warthegaus im Litzmannstadter Getto einquartiert. Ihre Alten und Kranken waren bereits 'ausgesiedelt' worden. Auf dieser Zusammendruck Reichsgau Wartheland aus der Übersichtskarte von Mitteleuropa im Maßstab 1:300.000 aus 1941 sind die meisten ihrer Städte und Dörfer rot unterstrichen.

 

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(28) Rechts der Judenälteste in seinem Dienstwagen und links eine Reihe Kinder wartend auf Essen, fotografiert vom Österreichischen Nazi Genewein. Am 3. September 1942 verordnen die Nazis eine 'Aussiedlung' von 25.000 Juden: Wenn Sie keine Auswahl treffen, machen wir es selber. Rumkowski hält am nächsten Tag eine äusserts qualvolle und umstrittene Rede: Gebt mir eure Kinder. Er plädiert im Getto dafür, dass die Einwohner Kinder jünger als zehn Jahre und auch Ältere und Kranke aufgeben, so das die produktiven Juden überleben können. Im jiddischen Getto Tagebuch In yene koshmarne teg - In diesen albtraumhaften Tagen - schreibt Józef Zelkowicz: Für jeden ist klar, dass diejenigen, die nun aus dem Getto deportiert werden, nicht woanders 'hingeschickt' werden - sie werden ins Verderben geschickt, zumindest die Alten. Sie gehen, wie man hier im Getto sagt, 'in shmelts arayn'. Von 5 bis 12 September wurde eine 'Allgemeine Gehsperre' (Jiddisch: Shpere) verhängt. Rumkowskis Aussiedlungskommission sicherte sich die Hilfe der jüdischen Polizei, der Feuerwehr und anderer Beamter durch die Zusage, dass ihre Kinder und Eltern von der Verfügung befreit seien. So gingen Gestapo und SS mit ihren jüdischen Helfern von Haus zu Haus. Im Ganzen wurden 15.859 Menschen verschleppt und über 600 getötet.

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28. Zum Vergrößern anklicken

(29) In der Mitte dieser 'Topographischen Karte' im Maßstab 1:25.000 aus 1940 (mit einem Überdruck von Ortsnamen aus '44) liegt Chelmno nad Nerem, zu Deutsch ‘Kulmhof’. 55 Kilometer nordwestlich von Litzmannstadt wurde hier das erste Vernichtungslager überhaupt errichtet, und zwar von einem Sonderkommando, das vorher im Altreich schon für 2.000 Morde im Rahmen des 'Euthanasie-Programms' verantwortlich gewesen war. Aber auch ein Kommando der Schutzpolizei, vor allem vom Polizeibataillon Litzmannstadt, leistete in diesem Vernichtungslager mehrfach Beihilfe.

 

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(30) Zoomen wir die Karte näher heran. Ab Dezember 1941 fingen hier die Mordaktionen an. Bis Mitte Januar werden 6.400 Juden aus kleinen Gemeinden des östlichen Warthegaus umgebracht. Dann kamen die Transporte der Roma und die der Juden vom Bahnhof Radegast in Zugwagen nach Kulmhof. Dort wurden sie auf dem Schlossgelände eingesperrt. Im Schloss wurden sie entkleidet und zur 'Entlausung' in den Gaswagen getrieben. Durch den Kohlenmonoxid erstickten die Menschen innerhalb von 10 Minuten. Dann fuhr der Fahrer die Leichen entlang der roten Linie in ein Lager im Wald, wo sie in Massengräbern vergraben wurden. Vergleichen Sie auch das Luftbild von Mai 1942 mit der Karte. Die Gesamtzahl der jüdischen Opfer ist hier auf 152.477 berechnet. Hinzukommen über 4.000 Sinti und Roma, sowie eine unbekannte Zahl russischer Kriegsgefangener.

 

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(31) Es gab im Getto noch ein zweites Konzentrationslager, das 'Jugendverwahrlager', gleich neben dem Jüdischen Friedhof. Das war ein Arbeitslager für polnische Kinder im Alter von 8 bis 16 Jahren, manchmal sogar noch jünger. Gegen Ende 1943, als es ausgebaut worden war, wie auf der Rekonstruktion oben ersichtlich ist, umfaste es 8.000 Kinder. Gründe zur Inhaftierung waren Diebstähle von Nahrungsmitteln, 'Verwahrlosung', aber auch Waisen oder 'Terroristenkinder', d.h. Kinder von polnischen Partisanen, wurden von Jugendämtern der SS eingewiesen. Die Kinder mussten täglich zehn bis zwölf Stunden für die Wehrmacht arbeiten. Die jüngsten klebten Tüten. Strafen waren unabhängig vom Alter. Es gibt Dokumente die von 200 Toten pro Monat ausgehen. Im Sommer 1943 brach eine Typhusepidemie aus, an der viele starben. Ein Teil der sehr jungen Kinder, die arisch aussahen, wurde ins Germanisierungslager des Rasseamts gebracht. Wer die Prüfungen bestand, wurde von deutschen Familien adoptiert, die anderen mussten zurück. Beim Einmarsch der Roten Armee Anfang 1945 gab es im 'Jugendverwahrlager' noch ungefähr 900 Kinder.

 

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(32) Hier ein schöner Plan von Litzmannstadt aus dem Jahre 1942 im Maßstab 1:20.000, herausgegeben von der Buchhandlung Seipelt auf der Adolf-Hitler-Strasse. Von der Neugestaltung der Stadt um den Hitlerjugendpark herum ist noch nichts zu sehen, rechts oben steht Stockhof-Süd allerdings schon auf dem Plan. Links unten im Stadtteil Erzhausen finden Sie die Gebrüder Grimm-Strasse, den Isegrimweg, den Aschenbrödelweg, den Eulenspiegelweg und so weiter. Aber wo gibt es das abgeriegelte Getto?

 

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32. Zum Vergrößern anklicken

(33) Zoomen wir näher heran. Auf diesem Plan ist der Verlauf der Stacheldrahtgrenze nicht verzeichnet. Dennoch ist das Gettogebiet in der Altstadt und Bawuty leicht zu erkennen. Getto-Strassen sind nur mit Buchstaben und Zahlen angedeutet. Es sieht so aus, als ob jüdische Einwohner deutsche Strassennamen mit ihrer Anwesenheit nur beschmutzen könnten.

 

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33. Zum Vergrößern anklicken

(34) Dass das zeitweilige Getto der Juden, in gelben Grenzlinien, von der Stadtbauverwaltung für andere Zwecke vorbestimmt wurde, sieht man auf diesem Plan (ohne Titel und Maßstab) des Stadtplanungsamtes vom Oktober 1942. Die Stadtbauverwaltung fasst nicht länger eine Neugestaltung von Litzmannstadt mit den wichtigsten öffentlichen Gebäuden entlang einer Ost-West-Achse ins Auge. Dagegen projiziert sie ein neues deutsches Zentrum Mitten im Gettogelände. Ausserdem sollen Altstadt und Neustadt von einem Park entlang des Lodschka Baches getrennt werden. Ein Teil des Gettos, von dicken gelben Linien umzaunt, muss hier zurzeit geräumt werden. Etwa 5.000 Menschen und 14 Betriebe werden in diesen Wochen an andere Orte im Getto verlegt. Damit gehen zugleich zahlreiche kleinere Gärten verloren, die bis dahin wesentlich zur Ernährung beigetragen hatten. Die ständige und aufwändige Planung zur Verdeutschung von Litzmannstadt, auch wenn nur kleine Teile durchgeführt werden, muss man nicht nur als einen Versuch von Planern, Architekten und Kartographen werten, dem Dienst an der Ostfront zu entkommen. Sie erfüllt meines Erachtens vor allem die Funktion einer Utopie des deutschen Lebensraumes, die die dortigen Nazis zu grossen und harten Massnahmen begeisteren soll.

 

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34. Zum Vergrößern anklicken

(35) Hier ist die Utopie vom deutschen Zentrum im Getto weiter konkretisiert. Dieser Plan 'Litzmannstadt Getto-Umgestaltung' im Maßstab 1:2000 in 16 Blättern ist vom Januar 1943 und misst etwa 1,4 zu 2 Meter. Auf einer alten Katasterkarte ist das neue Zentrum projiziert worden. Hier sollen Paradestrassen und ein Appellplatz, gekrönt vom Verwaltungsblock der Partei mit Glockenturm, eine imponierende Bühne für das deutsche Volkserleben schaffen. Dieser Plan, entworfen vom Stadtplanungsamt auf Anordnung der Stadtbauverwaltung, erschien vier Monate nach den Massendeportationen des Jahres 1942 und fünf Monate vor Himmlers Befehl, das Getto zu liquidieren. Was diesen Plan und den Befehl aufschob, und damit auch das Lebensende von über 70.000 Juden, war der dauernde Bedarf an billigen Arbeitskräften für die Produktion von Kriegsgütern. Himmlers Versuche, das Getto zu räumen, wurden vom Rüstungsminister Speer mit Hilfe einiger Behörden des Warthegaus die den erwirtschafteten Profit behalten möchten, verhindert.

 

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35. Zum Vergrößern anklicken

(36) Als sich Juni 1944 die sovjetische Front nähert, verlangt Oberbürgermeister und Gestapo-Chef SS-Hauptsturmführer Dr. Bradfisch von Rumkowski pro Woche 3.000 Menschen, die angeblich zu Aufräumarbeiten ins Reich geschickt werden sollen. In Wahrheit werden sie im wieder aktivierten Kulmhof vergast. Aber Mitte Juli schliessen die Nazis das Vernichtungslager und versuchen die Spuren des Massenmordes zu beseitigen. Ab August gehen fast täglich Transporte mit bis zu 5.000 Menschen von Radegast nach Auschwitz. Dort werden die meisten sofort vergast. Einige tausend Juden werden zum Arbeitseinsatz ausgewählt und nach Monowitz oder in Konzentrationslager im Altreich überführt. Rumkowski wird am 28. August samt seiner Familie deportiert und in Birkenau ermordet. Die Karte links, der Plan vom Interessengebiet des K.L. Auschwitz aus Februar 1941 im Maßstab 1:10.000 zeigt das Stammlager Auschwitz 1 und das schon geplante 1,7 Quadratkilometer umfassende industrielle Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Karte rechts, das Lageplan Werk Auschwitz von der IG Farbenindustrie AG aus 1943 im gleichen Maßstab zeigt das Arbeitslager Auschwitz-Monowitz unterhalb des riesigen Geländes mit den Buna-Werken.

 

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36. Zum Vergrößern anklicken

(37) Nur einige Hunderte konnten den Deportationen entkommen, indem sie sich versteckten und über 800 Juden blieben im Getto von Litzmannstadt zur Aufräumarbeit. Als die Rote Armee am 19. Januar 1945 Lodz von den Nazis befreite, waren dort nur noch 877 Juden am Leben. Sie sehen hier eine sowjetische Karte von Lodz und Umgebung aus 1944 im Maßstab 1:50.000, herausgegeben vom Generalstab der Roten Armee. Auffallend sind die vielen Betriebe die in der Stadt vermerkt wurden. Diese letzte Karte markiert auch den Beginn der sowjetischen Besatzung des polnischen Lodz.

 

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37. Zum Vergrößern anklicken

Zurückblickend fragt man sich, warum Juden in dem am längsten existierenden nationalsozialistischen Getto, abgesehen von zahlreichen Initiativen zur Besserung der Lage und zur Schaffung einer kulturellen Gegenwelt, so wenig Widerstand geleistet haben. Memoiren von Überlebenden und historische Analysen benennen die wichtigsten Faktoren. Erstens die hermetische Abgrenzung des Gettos und die starke deutsche Präsenz in Litzmannstadt. Nur Deutsche und eingedeutschte 'Halb-Polen' durften in der Nähe des Gettos wohnen. Zweitens war der polnische Untergrund in den annektierten Teilen Polens nicht sehr aktiv, im Gegensatz zu den vielen Sabotagen, Anschlägen und sogar einigen Aufständen der Armia Krajowa im Generalgouvernement. Überhaupt waren Verbindungen zwischen 'jüdischen' und 'polnischen' Widerstandskämpfern schwierig. Drittens ist da die Politik von Rumkowski: Unser einziger Weg ist Arbeit. Der Judenälteste und der jüdischer Ordnungsdienst unterdrückten Demonstrationen rücksichtslos und das Schnellgericht des Gettos verurteilte Juden, die Widerstand leisteten, zur 'Aussiedlung'. Die 'Suppenstreiks' wurden durch den Hunger gebrochen, Familien von Aktivisten bekamen einfach keine Lebensmittel mehr. Der letzte Grund liegt in der Unvorstellbarkeit der 'Endlösung der Judenfrage'. Sogar Menschen, die viele schreckliche Geschehnisse erleben, fällt die Erkenntnis nicht leicht, dass man mitten im Genozid steht.

 

Manche Fragen stehen noch offen. Dennoch hoffe ich, mein Vortrag hat Ihnen Folgendes exemplarisch gezeigt:

- Die Expansion des deutschen Lebensraums im Osten und die Zurückdrängung der Juden ins Getto sind zwei Seiten einer Medaille.

- Karten und Pläne sind wichtige historische Dokumente, mit denen diese räumlichen Prozesse analysiert und präsentiert werden können.

- Die Nazis in Berlin förderten eigene Initiativen der regionalen und lokalen Verwaltung. Gerade deswegen tragen ihre Planer, Architekten und Kartographen Mitverantwortung für den Holocaust.

 

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

© Harrie Teunissen
Leiden/Wien September 2016

Topography of Terror: Maps of the Warsaw Ghetto

The Holocaust in Contemporary Maps

 

Herkunft der Karten, Pläne und Bilder

• Archiwum Map Wojskowego Instytutu Geograficznego 1919-1939: 2a, 3, 4, 27, 29, 37
• Archiwum Państwowe w Łodzi: 1, 16b, 17, 21, 23, 34, 35
• Bolanowski, T. 2013: 13a, 13b, 13c, 13d, 14b
• Bonisławski, R. 2013: 18
• Bundesarchiv Koblenz: 10
• Collection United States Holocaust Memorial Museum, Washington: 24b, 28b
• Deutsches Historisches Museum, Berlin: 19a
• Fritz Bauer Institut, Frankfurt a. M.: 36b
• Gedenkstätte Radegast Bahnhof: 26b
• Ghetto Fighters Museum (Lohamei HaGetaot Museum), Nahariya: 25a, 25b
• Kolekcja Ryszarda Hubisza, Kraków: 6
• Kollektion Niels Gutschow, Absteinach: 14a, 16a
• Library of Congress, Washington: 32
• Litzmannstädter Zeitung, Litzmannstadt 1940 - 1945: 12, 15, 22, 26
• Repozytorium Cyfrowe Instytutów: 7
• Steven Spielberg Film and Video Archive, USHMM, Washington: 11a, 11b
• Steegh/Teunissen Collectie, Leiden: 8, 9, 20, 25c, 26b
• Wikimedia Commons: Mapa Paktu R M Izwiestia -18.09.1939: 2b
• Witkowskiego, J. 1975: 31b
• WWII Aerial Photos and Maps: 24a, 26a, 30a, 31a
• Yad Vashem, Jerusalem: 28a, 36a
• YouTube. Der Ewiger Jude 1940: 19b, 19c, 19d, 19e

 

Literatur und Websites

• Alberti, Michael. Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland, 1939-1945. Wiesbaden 2006

• Aly, Götz und Heim, Suzanne. Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt a. M. 1991

• Bolanowski, Tomasz. Architektura okupowanej Łodzi. Niemieckie plany przebudowy miasta. Łódź 2013

• Bonisławski, Ryszard. Sentymentalna podróż po Łodzi : Łódź na starych fotografiach Włodzimierza Pfeiffera / Sentimental journey around Lodz : Lodz on Włodzimierz Pfeiffer's old photographs. Łódź 2013

• Bosse, Lars. Volksdeutsche Umsiedler im 'Reichsgau Wartheland'. Kiel 1992

• Feuchert, Sascha, Leibfried, Erwin und Riecke, Jörg. (Hrsg.) Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Göttingen 2007

• Gissibl, Fritz und Müller, Hubert (Hrsg.). Der Osten des Warthelandes. Litzmannstadt 1941

• Gutschow, Niels. Ordnungswahn. Architekten planen im 'eingedeutschten Osten'. 1939-1945. Basel 2001

• Horwitz, Gordon J. Ghettostadt: Łódź and the Making of a Nazi City. Cambridge und London 2008

• Jureit, Ulrike. Das Ordnen von Raumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 2012

• Kossmann, Oskar. Lodz. Eine historisch-geographische Analyse. Würzburg 1966

• Löw, Andrea. Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen 2006

• Litzmannstädter Zeitung, 1940-1945: http://bc.wbp.lodz.pl/dlibra/publication?id=29008&from=&dirids=1&tab=1&lp=1&QI=3321084441BCE00B1C5D32809AB08AAF-5

• Madajczyk, Czeslaw (Hrsg.). Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, Dokumente. München 1994

• Meyer, Konrad. Landvolk im Werden. Berlin 1941

• Michman, Dan. Angst vor den 'Ostjuden'. Frankfurt a. M. 2011

• Nerdinger, Winfried und ... (Hrsg.). Archtektur und Verbrechen. Die Rolle von Architekten im Nationalsozialismus. Göttingen 2014

• Pelt, Robert Jan van. Lodz and Getto Litzmannstadt. Promised Land and Croaking Hole of Europe. Toronto 2015

• Repozytorium Cyfrowe Instytutów Naukowych / Digital Repository of Scientific Institutes: http://rcin.org.pl/dlibra

• Rössler, Mechtild. 'Wissenschaft und Lebensraum'. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Hamburg 1990

• Seraphim, Peter-Heinz. Das Judentum im osteuropäischen Raum. Essen 1938

• Singer, Oskar. "Im Eilschritt durch den Gettotag ...". Berlin 2002

• Trunk, Isaiah. Łódź Ghetto. A History. Bloomington and Indianapolis 2006

• Witkowskiego, Jósef. Hitlerowski obóz koncentracyjny dla małoletnich w Łodzi. Wrocław 1975

• Zelkowicz, Józef. In diesen albtraumhaften Tagen. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942. Göttingen 2015